Ausstellungen

Bildende Künstler in Prag in den 30er Jahren - Dorothea Köppen-Wüsten und ihr Umfeld

Vortrag am 19. März 2011 an der Hochschule Zittau/Görlitz
Inga Arnold-Geierhos

Gestern hörten Sie den Vortrag von Herrn Dr. Wessig über Johannes Wüsten als Literaten in Prag, ich werde versuchen die Situation der Bildenden Künstler, die aus Deutschland nach Prag in den 30er Jahren emigrierten, an Hand der Biographie von Dorothea Köppen-Wüsten zu verdeutlichen.
Da Dorothea Köppen-Wüsten noch recht unbekannt ist, werde ich ihre Biographie vor und nach Prag mit umreißen.
Während über Exilliteratur eine ganze Reihe an Veröffentlichungen vorliegt, wurde die bildnerische Exilkunst erst in den 80er Jahren als Besonderheit verstanden, nicht als ein Stil, sondern als Niederschlag einer sozialen und politischen Situation. Große Arbeiten waren kaum möglich. Aus Mangel an Material und Zeit entstanden eher Zeichnungen und Aquarelle statt großer Gemälde. Die Existenzsicherung stand im Vordergrund. Die Kunst, die oft nur nebenbei entstand, zeigt meist keine große künstlerische Entwicklung, sondern steht in der Kontinuität von bisher entwickelten Ausdrucksmitteln.

FOLIE 1

Am 11. Nov. 1974 veröffentlichte die Stadtverordnetenversammlung Görlitz einen Nachruf: Am 1. November 1974 verstarb nach ihrem 81.Geburtstag die Ehrenbürgerin der Stadt Görlitz, Genossin Dorothea Wüsten, die "Lebens- und Kampfgefährtin des antifaschistischen Malers, Kupferstechers und Schriftstellers Johannes Wüsten….In der Auseinandersetzung mit dem Klassengegner formte sich ihre Weltanschauung. Sie folgte ihrem Mann in die Emigration nach Prag, wo sie gemeinsam Parteiarbeit unter den deutschen Emigranten leisteten. Von 1936-1946 arbeitete sie in London im Auftrag der Partei im Freien Deutschen Kulturbund und in der Bewegung „Freies Deutschland“…1946 kehrte sie nach Berlin zurück und stellte sofort ihre Kräfte und Erfahrungen für den Neuaufbau des geistig kulturellen Lebens zur Verfügung….“

Ich habe nur wenige charakteristische Sätze herausgenommen.
Es ist nicht einfach, das Bild von Dorothea Wüsten-Köppen von dem Klischee, wie es der Görlitzer Nachruf zeichnet, zu befreien und ihre Persönlichkeit wahrheitsgetreuer, differenzierter, lebendiger herauszuarbeiten. Sie hat sich nur wenig über ihre Erlebnisse und Erfahrungen geäußert, sie bereute es selbst, kein Tagebuch geschrieben zu haben. Inzwischen habe ich viele Briefe aus verschiedenen Zeiten und von unterschiedlichen Adressaten gelesen, hinzu kommen offizielle Dokumente aus dem Nachlass und Exilliteratur, die z. T. von Persönlichkeiten verfasst ist, die mit Dorothea Wüsten bekannt oder befreundet waren. Darin wird sie zwar nur gelegentlich erwähnt, aber das gemeinsame Umfeld und allgemeine Fakten geben einen lebendigen Hintergrund, so dass ihr individueller Lebenslauf und ihr malerisches Werk als ein Zeitbild des 20. Jahrhunderts erscheinen. Trotzdem bleibt ihre Biografie unvollständig wie auch ihr künstlerisches Werk.
Sie selbst hat kein Verzeichnis aufgestellt. Ihr erhaltenes Oeuvre ist nicht sehr groß, an Gemälden sind nur wenige bekannt. Sicherlich hat sie vor allem in der Görlitzer Zeit einiges verkauft.
In den 12 Jahren Emigration ermöglichten die Umstände nicht, große künstlerische Werke zu schaffen. Ihre beste Schaffenszeit waren die zwanziger Jahre in Görlitz, obwohl die späteren Zeichnungen und Aquarelle in ihrer künstlerischen Eigenheit hohe Qualität besitzen.

FOLIE 3 Dorothea mit Schwester und Bruder

Nun kurz zu ihrer Kindheit und Jugend:
Dorothea Köppen stammt aus einer norddeutschen gut bürgerlichen Familie. Sie wurde am 8. Nov. 1893 in Ketzin an der Havel geboren.
Ihr Vater war ein wohlhabender Apotheker, evangelisch und preußisch gesinnt.

Dorothea verlebte mit ihrer älteren Schwester Katharina und ihrem jüngeren Bruder Otto eine sorglose Kindheit. Als sie 10 war, zog die Familie nach Potsdam und 3 Jahre später nach Blankenburg im Harz in das vom Vater neu erbaute Apothekerhaus. Nach Abschluss des Lyceums verbleibt die 16jährige noch zwei Jahre im elterlichen Haus lernt die Haushaltsführung genießt Malunterricht bei einem Privatlehrer.

FOLIE 4 Schwesterngruppe

1913/14 nimmt sie an einem Krankenkurs vom Roten Kreuz teil und arbeitet im städtischen Krankenhaus. Auch ist sie Mitglied in einem Tennisclub.
Dieses sorglose Leben einer „höheren Tochter“ endet mit dem I. Weltkrieg.
Sie arbeitet als Krankenpflegerin im Lazarett ihrer Heimatstadt.
Ihr Verlobter – ein Offizier – fällt an der Front.

FOLIE 5 Im Atelier von Prof. Spiro


Ende 1916 – also mitten im Krieg – geht sie aus Blankenburg weg und beginnt ein eigenständiges Leben. Sie beginnt Malerei in München zu studieren.
September 1917 fällt ihr Bruder als Leutnant bei Langemark/Westflandern, und Dorothea scheint gezwungen, in Zukunft beruflich auf eigenen Füßen stehen zu müssen. Sie wechselt Herbst 1917 nach Berlin und besucht einen Kurs für Stenografie und Schreibmaschine und arbeitet ein Jahr als Stenotypistin und Sekretärin bei der AEG. Dieses moderne Elektrizitätswerk war von Emil Rathenau begründet worden, dem Vater Walther Rathenaus, der als Mitglied der Reichsregierung 1922 erschossen wurde.
Obwohl Dorothea in einem späteren Lebenslauf schreibt, dass ihr in Berlin durch Arbeitskollegen der AEG politisch die Augen geöffnet wurden, hat sie sich politisch in dieser Zeit noch nicht betätigt oder organisiert.
Aber diese Brotarbeit im Büro ist unbefriedigend.

Mit dem ersparten Verdienst ermöglicht sie sich ein weiteres Studium und zwar an der Akademie des Vereins der Künstlerinnen und Kunstfreundinnen Berlin. Ihre Lehrer sind der Landschaftsmaler und Lithograf Karl Wendel und der Impressionist Eugen Spiro. Dazu ein Verschen von Ihr:
1918
Ernst ist das Leben und die Kunst
den Brotkorb gabs nicht mehr umsunst.
ch war bei Wendel, der mich lehrte,
was meine Fertigkeit vermehrte,
bei Spiro malte ich exakt
viel Akt.

Nach dem Tod ihres Vaters August 1919 beginnt sie ab 1. Oktober ein reguläres Studium an der preußischen Kunstakademie Düsseldorf, ermöglicht durch ein Gesetz der Weimarer Republik, das die Lehr- und Lernberechtigung für Frauen an allen öffentlichen Kunstschulen endgültig durchsetzte.
An der Düsseldorfer Kunstakademie lehrt ab diesem Semester ihr bisheriger Berliner Professor Karl Wendel. Am meisten aber schätzt sie Heinrich Nauen, der mit seiner menschlichen und kunstbegeisternden Ausstrahlung viele Studenten beeindruckte.
Aus dieser Zeit sind lediglich 3 Radierungen von Dorothea erhalten, die beobachtete Alltagsszenen am Rande der Stadt verarbeiten.

FOLIE 6: Auf der Straße, 1921: Auf einer leeren Straße geht barfuss ein Landmädchen an einer endlosen Mauer entlang, hinter der ein toter Baum steht. Ihre ganze Habe trägt sie in einem kleinen Bündel: Trostlosigkeit einer Arbeitssuchenden in der Inflationszeit. Eine sparsame Zeichnung. Die Umrissbetonung und gekrümmten Linien lassen den Einfluss von Heinrich Nauen erkennen, dessen Vorbild Vincent van Gogh war.

FOLIE 7 Eiswagen und die Eisträger in einer abschüssigen Gasse zeigen diesen Einfluss noch deutlicher.

Die Inflation lässt das väterliche Erbe, das ihr das Studium ermöglichte, dahinschmelzen. Nach 5 Semestern muss sie das Studium vorfristig abbrechen. Sie kehrt nach Blankenburg zurück, wo Mutter und Schwester, eine ausgebildete Musikpädagogin, inzwischen im Vaterhaus eine Pension eingerichtet haben. Dorothea verdient sich ihren Lebensunterhalt in einer Fabrik für Holzspulenproduktion. Dorothea sucht nach einer Verdienstmöglichkeit, wo sie ihre kreativen Fähigkeiten einsetzen kann. Und so ist es wohl ihr Görlitzer Verwandter, der Rechtsanwalt und Notar Georg Schultze, der sie auf die ein Jahr zuvor gegründete Kunsttöpferei Walter Rhaue hinweist. An einem Wintertag, dem 15. Januar 1923 trifft die Kunstmalerin Dorothea Köppen in Görlitz ein. Hier in Görlitz waren die Not und die gesellschaftlichen Kontraste nicht so groß wie in anderen Städten, vor allem durch den immensen Grundbesitz und die dadurch geringeren Steuern. Die Folge war ein starkes kulturelles Aufblühen. Keine Zeit war so lebendig in Görlitz wie die Zwanziger Jahre.

Dorothea wohnt wohl die ersten Jahre bei ihrem Verwandten Georg Schultz, in dem neu erbauten Haus Elisabethstr. 32 und arbeitet als Keramikmalerin in der Kunsttöpferei des Kirchenmalers Walter Rhaue. Dort arbeiten seit einem Jahr Theodor Wüsten und seit einem Monat Johannes Wüsten Walter Rhaue möchte in seiner Kommanditgesellschaft Johannes Wüsten zu seinem Kompagnon machen. Dorothea empfiehlt, eine eigene keramische Werkstatt zu gründen. Johannes stimmt zu. So richten sie noch im gleichen Jahr, also 1923 die „Seidenberger Fayence-Manufaktur Görlitz, Bellermann und Wüsten“ im Gemeinschaftshaus, Kahle 20a ein. (heute Joh. Wüsten-Str.). Bellermann war der Dresdner Financier.

FOLIE 8 Teller 1923 Dame mit Papagei: Redseligkeit

Sie produzieren keine Massenartikel, sondern Einzel- oder Sammelstücke, die als freie Kunsterzeugnisse der Bildenden Kunst gleichwertig angesehen werden können. Die Keramiken werden in Görlitz, aber auch in Hamburg und Berlin verkauft. Dorothea arbeitet auch Plastiken.

FOLIE 9: Mutter (Maria) und Kind. Diese Keramikplastik ist nur als Abbildung bekannt, weil sie an einen Privatmann nach Lauban verkauft wurde. Sie war zuvor mehrmals ausgestellt. Die besondere Qualität: Es sind nur 2 Köpfe, aber durch ihre Position suggerieren sie eine Gesamthaltung innigster Zuwendung.
Bevorzugt werden religiöse Motive. Besonders beliebt sind ihre Bildkacheln.

FOLIE 10 Schmerzensmann Rechts die Vorzeichnung, links die Kachel. Gegenüber der Zeichnung ist die Keramik reduziert, bedingt durch die Technik der Fayence, die eine Vereinfachung verlangt. Die Zeichnung zeigt zusätzlich beidseitig Folterknechte mit Peitschen. Eine expressionistische Miniatur mit Eigenwert.

FOLIE 11 Auch die Darstellung der Heiligen Veronika ist reduziert auf wenige Striche und Farbflächen. Bei Keramikmalerei müssen die Striche sitzen, da sie nicht korrigiert werden können. So behalten sie ihren spontanen Charakter.

Der Wirtschaftsaufschwung stellt sich nicht im erhofften Maße ein, und der Verzicht auf Serienproduktion zugunsten künstlerischer Einzelstücke bringt nicht den nötigen Gewinn. 1925 geht die Fayence-Manufaktur in die Insolvenz.

FOLIE 12: Foto Dorothea und Johannes

Johannes Wüsten und Dorothea Köppen wenden sich wieder verstärkt der Malerei zu.
Nachdem die Scheidung Johannes Wüstens von seiner 2. Frau Elisabeth Edel nach 3 Jahren Trennung erfolgt und Vater Wüsten nach langer Krankheit Sept. 1926 verstirbt, heiraten Johannes Wüsten und Dorothea Köppen.
Ihre erste gemeinsame Wohnung ist Nonnenstraße 18/19, also im Eckgebäude am Klosterplatz. Ihre Nachbarn, Klosterplatz 15, sind der fast gleichaltrige Maler Arno Henschel und seine Frau Anne, mit denen sie befreundet sind.
Dorothea berichtet später: „Um eine kleine wirtschaftliche Existenz zu haben, gründete Johannes Wüsten eine Malschule, außerdem schrieb er für den Görlitzer Anzeiger und hielt Vorträge. Wir verkauften auch ab und zu Bilder, denn es gab in Görlitz eine große Reihe kunstinteressierter Menschen.“ In der Görlitzer Malschule übernimmt Johannes die Grafikklasse, die er in seinem Atelier Kahle 7 (der späteren Johannes-Wüsten- Straße) unterrichtet.
Der neue Lebensabschnitt von Dorothea und Johannes ist verbunden mit einer neuen künstlerischen Orientierung, ausgelöst durch den gemeinsamen Besuch der Ausstellung „Neue Sachlichkeit“ in Dresden November 1925, die aus Mannheim übernommen worden war. Diese Ausstellung war wie eine Initialzündung für sie. Vor allem Werke von Carl Mense und Alexander Kanoldt faszinierten Johannes Wüsten. Bei diesen Professoren studierte ihr Freund Arno Henschel das Wintersemester 1926/27 in Breslau.

FOLIE 13 Giorgio de Chirico

Kanoldt und Mense gehörten zuvor der Münchner Gruppe der Neusachlichen an, die Verbindung zu Giorgio de Chirico hatte – dem Hauptvertreter der „Pittura metafisica“, der italienischen Variation und Vorform der Neuen Sachlichkeit. Sein Bild „Geheimnis und Melancholie einer Straße von 1914 zeigt gespenstige Leere. Lebendiges Kinderleben zeigt sich nur als Schattenbild. Die Sphäre des Traumhaften ist sichtbar gemacht.

FOLIE 14 Kinderzug

"Der Kinderzug" von Dorothea Köppen ist nur als schwarz-weiß Foto vorhanden. Es ist der Blick aus ihrer Wohnung im dritten Stock auf den Klosterplatz auf einen Schülerinnenumzug durch die Stadt mit Blaskapelle vorneweg. Dieses reale Ereignis ist stark verfremdet. In der Perspektive sind zentrale Fluchtlinien vermieden und verschiedene Sichtachsen vereint. Man vermeint, der Betrachter stehe unmittelbar hinter dem Zug, gleichzeitig hat er von einem erhöhten Standpunkt aus den Blick über alles. Die Raumtiefe wird nicht durch die Zentralperspektive, sondern durch Verkleinerung erreicht.
Der Kinderzug von hinten gesehen erscheint als anonyme Masse. Dies und die Art der Perspektive erinnern an Bilder der Frührenaissance aus dem 15.Jh.
Chirico hatte 1919 empfohlen, sich an den alten Meistern zu orientieren als Mittel für die Moderne.
Die scheinbare Naivität in den puppenhaften Figuren und stilisierten Naturformen geben der Darstellung einen elementaren, überindividuellen Charakter. Die real beobachtete Prozession wird zur Vision. Der Kinderzug wirkt seltsam still und unlebendig. Nur die letzten zwei Mädchen zeigen ihre Gesichter, indem sie sich einander zuwenden. Beide tragen eine weiße Lilie.
Wohin geht der Weg der jungen Mädchen? Was bedeutet die Lilie, eigentlich Symbol der Reinheit und Schönheit, Verheißung und Hoffnung?

FOLIE 15: Marktstand

Dieses Gemälde zeigt in seiner Stilisierung, der hochgeklappten Perspektive und der wohlgeordneten Komposition von Formen und Farben auch die Orientierung an der Malerei des frühen 15.Jh., aber in die Moderne umgesetzt.

In ländlicher Idylle steht eine junge Frau mit Kleinkind hinter einem Markttisch und bietet die Früchte aus ihrem Garten an. Rechts in gebückter Haltung hantiert ein alter weißhaariger Mann. Die junge Frau hält in der einen Hand eine Lilie, auf die ihr Blick und der des Kindes gerichtet sind.
Auch dies ist ein symbolisches Bild. Schlüssel kann wieder die Lilie sein.
Von Malern der Neuen Sachlichkeit wurde gern das kleine Glück bescheidenen Lebens dargestellt. Die Lilie kann ein Symbol sein für das natürliche Leben und seine Schönheit. (Salomons Sprüche)
Aber bekannter ist die Lilie als Mariensymbol. Ist es eine Darstellung der Heiligen Familie im Gewand des 20.Jh.?

FOLIE 16 Petri Gesicht Im Neuen Testament wird die Vision des Apostels Petrus erzählt: Petrus hat eine sehr sparsame Mahlzeit und also noch Hunger. Da schweben Engel mit einem Tuch hernieder, indem unreine Tiere angeboten werden. Petrus wehrt die Annahme dieser Speise ab.
Da ertönt eine Stimme: Was Gott gereinigt hat, das mache du nicht gemein. Petri Vision steht für die Entscheidung, Heiden in die christliche Gemeinde aufzunehmen.
Was bedeutet das 1927: die Annahme des Fremdlings, der nicht zum auserwählten Volk von Geburt aus gehört. .
Dieses Bild richtet sich gegen nationalistische Überheblichkeit und jede Art der Rassendiskriminierung.

In diesem Jahr beteiligt sich Dorothea Koeppen (trotz Heirat bleibt dies ihr Künstlername) an der ersten Ausstellung des Künstlerkreises Niederschlesien in Görlitz mit drei Gemälden: Petri Gesicht, Frau mit Kindern und Kinderzug, sowie Fayencearbeiten von 1924. Im Katalogtext dazu ist zu lesen: Dorothea Koeppen sucht die Magie ihrer Gesichte mit einer bei Frauen seltenen Herbheit zu gestalten. In der einfachen Legende wie im träumenden Märchenerzählen verwebt sie die Deutlichkeit einer kindhaft realen Welt mit dem Wunder der Vision. Ihre Keramik ist von einer selten phantastischen Farbigkeit.“

1926 bis 29 sind für Dorothea und Johannes Jahre freien kreativen Schaffens und eines geselligen Lebens mit Schülern und Freunden trotz bescheidener Einkünfte. Man spricht von der Görlitzer Bohèmiene. Johannes und Dorothea unternehmen sogar eine Reise nach Dalmatien, finanziert durch den Verkauf eines Gemäldes von Johannes nach Japan.

Johannes erarbeitet sich in dieser Zeit den Kupferstich und bildet mit seinen Schülern die Görlitzer Stechergruppe, die sich in Deutschland einen Namen erwirbt.
Während Johannes im Atelier mit seinen Schülern arbeitet, durchstreift Dorothea gern allein die Stadt und fertigt Zeichnungen und Aquarelle.

FOLIE 17 Links: Blick in die Kräntzelstraße, relativ real im Gegensatz dazu das rechte Bild: die Staffelung unterschiedlicher Türme. Das Bild der mittelalterlichen Stadt Görlitz, wie es nie war, sondern historisierend, romantisierend. Vielleicht angeregt durch den Görlitzer Ratsarchivar Richard Jecht, mit dem sie befreundet sind und der nur wenige Häuser weiter wohnt.

1929 erfolgt der Zusammenbruch der relativen Stabilisierung der Wirtschaft.
Auch Dorothea und Johannes müssen noch genügsamer und bescheidener werden. Sie ziehen aus ihrer Wohnung Nonnenstr./Ecke Klosterplatz aus und machen die Nebenräume des Ateliers Kahle 7 zu ihrer Wohnung
Ab 1929 zeichnet Dorothea Wüsten eine Reihe von Porträtzeichnungen, Figurenbilder und Ölporträts.

FOLIE 18 Ihre besten Werke sind zweifelsohne das Bildnis ihrer Nachbarin Anne Henschel und das Porträt ihrer Schwiegermutter Frieda Wüsten. Zu beiden sind Vorzeichnungen erhalten. Damenbildnis von 1931 ist als Dreiviertelfigur dargestellt, fast en face mit leichter Drehung, als sei sie gerade im Weggehen begriffen aber schaut noch einmal auf ihr fiktives Gegenüber. In einem sehr modischen Kleid aus durchscheinendem frühlingshaft gemusterten Stoff, mit einer schwarzen Haube mit Spitzenschleier auf dem Kopf und schwarzen Handschuhen mit weißen Umschlägen. Eine vornehme Erscheinung in dieser schweren Zeit. Sehr sorgfältig gemalt. Im Gegensatz zur Kleidung der ernste zurückhaltende Ausdruck ihres Gesichtes. Der rote Hintergrund als Kontrast lässt es kostbar erscheinen, fast wie eine Zeitikone.

FOLIE 19 Frieda Wüsten Ganz anders bei dem Porträt ihrer Schwiegermutter Frieda Wüsten, das 2 Jahre zuvor entstand. Sie sitzt im dunklen Kleid im Sessel mit einer Decke über den Knien am geöffneten Fenster in Kahle 7 mit Blick auf die Gegenseite, wo das Haus Wartburg steht. Sie ist von Krankheit gezeichnet, mit Gicht in den Händen Das Gesicht ist voller Wärme und Innerlichkeit mit sehr beredten Augen. Sehr interessiert an Geschichte und Jacob Böhme. Alles ist sehr genau, fast altmeisterlich gezeichnet, Dieses Gemälde fand auf Ausstellungen der Görlitzer Künstlerschaft, des Lausitzer Kunstvereins und des Künstlerbundes Schlesien in Breslau Anerkennung als besonderes Meisterwerk.

FOLIE 20 Ihr Selbstbildnis - 1931 mit spitzem Bleistift gezeichnet und ihr Porträt von Johannes in Kupfer gestochen. Ich glaube, dass die Qualität als gleichrangig zu bewerten ist.

FOLIE 21 Doppelbildnis Jo und ich 1931 im Atelier als Bleistiftskizze. Ernst, sorgenvoll, prüfend. Obwohl beide körperlich gleich groß sind, malt sie sich tiefer. Sucht sie Geborgenheit? Dorothea berichtet: „Nach einem plötzlichen Aufstieg im gesamten wirtschaftlichen Leben im Jahre 1927, kam dann der Abstieg, der dann von 1931 an kaum noch genug zum Leben gab. Wir wussten oft nicht, wovon wir den nächsten Tag leben sollten. Die letzten beiden Schüler gingen. Am 1. März wurde in dem damaligen Museum „Gedenkhalle“ das Bild von Johannes „St. Sebastian“ zerstochen. Auch seine Kupferstichausstellung zu seinem 35.Geburtstag wurde vorzeitig geschlossen. Der Kreis der Sammler-Abonnenten zog sich zurück. Die Berliner Freunde verließen damals z.T. schon die Heimat.“1 Wüstens erhielten 1932/33 etwas Unterstützung durch den Rechtsanwalt Hans Nathan.

FOLIE 22 Weg zum Schlachthof. als unfertige Skizze: Der Fleischergeselle ist genauso abgemagert wie die Kuh. Es ist ein Bild des Hungers, aber mit Lächeln über die Komik der Situation verbunden.

FOLIE 23 Heilsarmee: auch hier hat Dorothea mit präzisem Strich eine Zeitkarikatur geschaffen. In dieser Krisenzeit hat die Heilsarmee Konjunktur. Die Frauen zeigen sehr unterschiedlichen Ausdruck. Die fast nackte Brunnenfigur ist wohl nicht ohne Absicht hinter dem himmelnden Mädchen gezeichnet.

FOLIE 30 Links Maske mit totem Vogel: der Tumult um den getöteten Vogel in der Hand der Maske. Das Mädchen vorn ist entsetzt. Hinten 2 Kinder mit wollüstiger Faszination. Der Akteur zeigt sein Gesicht nicht, trägt eine Maske. Es ist ein Bild gesellschaftlichen Gruppenverhaltens im Kleinen -1932. Im Gegensatz dazu rechts das trauernde Mädchen mit dem toten Vogel in der Hand. Vogel als kleines zu beschützendes Leben. Seit Antike ist der Vogel das Bild der Seele. Durch Johannes angeregt hat auch Dorothea die Technik des Kupferstichs erlernt, aber von ihr sind Kupferstiche erst bekannt, nachdem die Grafikklasse und die Görlitzer Stechergruppe nicht mehr bestanden.

Die politische Haltung von Dorothea und Johannes war parteipolitisch bis 1931 unentschieden. Zögernd wurden sie in ihrer aus stark humanistischer Gesinnung erwachsenden kritischen Haltung und ihrer schwierigen eigenen Lebenssituation zu stärkerer Zusammenarbeit mit links orientierten Aktiven veranlasst.
Seit 1929 arbeiteten sie in der Roten Hilfe, einer der größten Massenorganisationen der Weimarer Republik, die als Organisation der KPD bestand, sich aber in ihrer Solidaritätsarbeit als unabhängig und parteiübergreifend verstand. So war es möglich, dass auch SPD-Mitglieder, Anarchisten oder parteilose Linke darin mitarbeiteten.
Mit der Wahlniederlage Hitlers am 22.März 1932 erhielt die Hoffnung auf wirksame linke Gegenwehr neuen Auftrieb. Vier Tage danach trat Johannes Wüsten trotz starker Vorbehalte in die KPD ein. Dorothea zögerte noch. Nachdem aber Reichspräsident Paul von Hindenburg am 30. Januar 1933 Adolf Hitler zum Reichskanzler berief und im Zusammenhang mit dem Reichstagsbrand die KPD verboten wurde, trat sie Ende Februar auch der KPD bei, weil sie diese nun als einzig wirksame Plattform für Widerstandsarbeit gegen den Nationalsozialismus ansah. Nach verschiedenen Verhaftungswellen bildete sich um Johannes Wüsten eine Widerstandsgruppe, deren Kern die Mitglieder der von Johannes Wüsten geleiteten Arbeiterspielgruppe „Rote Bühne“ war. Wüstens Atelierwohnung Kahle 7 wurde illegaler Treffpunkt. Die Treffs wurden als Kunstdiskussion getarnt. Während der Treffs malte Dorothea die Porträts der Mitglieder, die aber aus Sicherheitsgründen vernichtet wurden. Dorothea beteiligte sich an der Beschaffung von Info-Material, Verteilung von Flugblättern, Unterstützung von Illegalen unter anderem bei der Quartiersuche, ehe diese über die tschechoslowakische Grenze gebracht wurden und in der Versorgung von Angehörigen der Emigranten oder Inhaftierten. Nebenbei hielt Dorothea das Leben in charakteristischen Situationen fest:

FOLIE 32 „eine Frau von 1934“ Dieses Aquarell ist in einer Münchner Galerie 1987 wieder aufgetaucht und danach bei Sotheby`s versteigert worden. Eine ironische Szene häuslicher Tugend. Eine dralle, blonde Frau, begleitet von ihrem kleinen Mädchen, schiebt einen Babywagen entlang auf der Hindenburgstraße. Der Kinderwagen hat die Farben schwarz-weiß-rot wie auch der Wimpel. Sie trägt ein blaues Kleid mit Ährenmuster, womit in mittelalterlicher Zeit die Mutter Maria bekleidet dargestellt wurde - die Heilsmutter. Im Park sind weitere Mütter mit Wagen, gefüllt mit neugeborenen Bürgern für das Tausendjährige Reich. Das Gesicht der Frau drückt Freude und Selbstzufriedenheit aus, wie es die Propaganda Goebbels betonte: „Die Aufgabe der Frau ist, schön zu sein und Kinder in die Welt zu setzen. Ihr Bereich ist die Familie, und durch Kinder bringt sie dem Volk den meisten Gewinn. Die Frau sorgt für die Vermehrung, und der Mann vollbringt die Heldentaten“.

FOLIE 33 Porträts eines Mannes, Dieser Mann ist sicherlich kein Held im Hitlerschen Sinn. Eher wohl einer, der nicht zu den Gewinnern zählt und emigrieren muss. Durch seine Haltung und die Betonung des Kopfes wird der seelische Ausdruck der abwartenden Resignation hervorgehoben.

Frühjahr 1934 erlebten Dorothea und Johannes drei Wohnungsdurchsuchungen.
Wegen drohender Verhaftung flüchtete Johannes April 1934 nach Prag, wo er Unterkunft in der Wohnung des schon Oktober 1933 aus Görlitz emigrierten jüdischen Rechtsanwalts Hans Nathan erhielt. In der Leitung der Widerstandsgruppe, jetzt „Peter“ genannt, arbeitet nun an Stelle von Johannes dessen jüngster Bruder Ernst Wüsten. Auch Dorothea arbeitet aktiv weiter mit. Am 13. November 1934 wird sie mit 50 Anderen verhaftet.
Sie sitzt 5 Monate in Untersuchungshaft in Görlitz und Breslau. Nach dreitägigem Prozess in Breslau wird sie frei gesprochen aufgrund der Verschwiegenheit der Mitangeklagten. Am 5. April 1935 holte ihre Mutter aus Blankenburg sie in Breslau ab nach Görlitz. Fünf Tage später flüchtete Dorothea nach Warnung vor einer neu drohenden Verhaftung nach Prag.

Prager Asyl 1935-39 Prag ist bis 1938 Hauptasylort für rassistisch und politisch Verfolgte aus Deutschland. Diese Stadt nimmt 8 000 bis 10 000 Flüchtlinge auf, darunter ca. 300 Architekten, Maler, Bildhauer, Grafiker, Fotografen. Obwohl die Zahl nicht unbedeutend erscheint, ist aber dabei zu bedenken, dass in der deutschen Reichskulturkammer 40 000 Künstler verbleiben. Von den 300 Künstlern ist die Mehrheit jüdisch und nur ca. 60 aus Arbeiterparteien oder ihnen nahestehend. Die emigrierten Künstler in Verbindung mit den ansässigen Prager Künstlern geben dieser Stadt ein unvorstellbar lebendiges und spannendes Kulturleben.
Da die Prager Bevölkerung schon vorher zu 22 % deutsch war, existieren bereits viele deutschsprachige Zeitungen, Verlage, Bibliotheken, Theater, Kinos etc., hinzu kommen deutsche Neugründungen, so dass sich die Emigranten keineswegs fremd und einsam fühlen. Und es ist unter Präsident Masaryk und dem Außenminister Edvard Beneš ein demokratisches Land, das als Asylland Unterstützung vom Völkerbund erhält, es gibt keinen Visumzwang. Da es an Deutschland grenzt, hoffen viele zunächst auf baldige Rückkehr. Allerdings, als die Emigrantenwelle nach Prag kommt, hat die ČSR eine Million Arbeitslose, so dass für Asylanten die Arbeitsaufnahme ziemlich hoffnungslos ist. Nur Freischaffende brauchen keine Arbeitsgenehmigung und haben damit trotz des Überangebots von Künstlern die Möglichkeit ein wenig zu verdienen z.B. für Werbung, für Zeitungen und müssen dadurch nicht in den Massenquartieren leben. Es gibt verschiedene Hilfskomitees, die für das Lebensnotwendigste der Emigranten sorgen.

FOLIE 34 Frantisek Xaver Šalda, Zeichnung vom tschechischen Nationalkünstler Max Švabinsky. Das Liberecer Theater trägt seinen Namen.

Das Hilfskomitee für Emigranten aus Deutschland, von dem Literaturtheoretiker Prof. Šalda gegründet, kümmert sich nicht nur um jüdische Flüchtlinge, sondern übernimmt auch die Nachfolge der Roten Hilfe, die 1933 – 35 in der ČSR verboten ist“. Johannes und Dorothea Wüsten gehören zum Šaldakomitee. Die Hilfsorganisationen kümmern sich um Aufenthaltsgenehmigungen, finanzielle Tagessätze, Sach- und Kleiderspenden, Reparaturen, medizinische Betreuung, Küchen- und Quartiereinrichtungen. Dafür gehen 1933 – 1936 Spenden von acht Mill. Kronen ein. Die Künstler helfen durch Veranstaltungen zugunsten der Emigrantenhilfe. Ihr Zentrum war das Emigrantenheim in Prag – Strasnice (eine ehemalige Fabrik). Sie sammeln Bücher für eine Bibliothek, führen tschechische Sprachkurse durch, veranstalten Vorträge, Theateraufführungen und Feste. Negative Erfahrungen machen die Emigranten z. T. mit der Polizei, die dem Innenminister Dr. Cerny untersteht, der zur rechten Agrarpartei gehört und mit der Henlein Partei, die im Sudetengebiet starken Rückhalt hat.
Die Lebensbedingungen sind sehr schwierig, aber die Künstleremigranten leben in geistiger und künstlerischer Hochspannung und Aktivität. Als Dorothea ein Jahr nach Johannes in Prag ankommt, erhält sie mit ihm als Wohnung ein armseliges Zimmer mit Matratzen auf dem Boden in

FOLIO 35 Praha VI Čechova 9
Johannes zeichnet und schreibt für Zeitungen und Zeitschriften (Rote Fahne, AIZ, Deutsche Volkszeitung, Prager Presse und Bohemia), wofür er aber nur sporadisch etwas ausbezahlt bekommt. Und er zeichnet Reklamen für Haarmittel, Bad usw. Er hält Vorträge im Heim Strasnice, und schreibt dramatische Stücke.
Dorothea hat, wie Johannes, Illustrationen für die „Rote Fahne“ und andere deutschsprachige Zeitungen gezeichnet, aber es sind nur Bildgeschichten für Kinder 1936 in der „Roten Fahne“ und einer tschechischen Zeitschrift (Maly Hkacetal) wie die Geschichte von Hase und Fuchs unter dem Pseudonym Malkova nachweisbar.
Und sie schuf Märchenillustrationen wie hier zur

FOLIE 39: Johannisnacht, mit großem Schwung und gestalterischer Geschlossenheit. Auch porträtierte sie im Bekanntenkreis

FOLIE 40 Bei einem gemeinsamen Besuch 1936 von Theodor Balk und seiner Frau, der Prager Schriftstellerin Lenka Reinerova zeichnet Dorothea das Porträt des jugoslawischen Arztes und Schriftstellers Theodor Balk. Beide emigrieren später nach Mexiko.

FOLIE 45 Industrielandschaft 1936: Tagebau Der Sohn von Wieland Herzfelde erzählt in seiner Biografie, dass Dorothea in der Verwaltung eines Uranwerkes gearbeitet habe. Das könnte ja nur Joachimsthal sein. Er war damals etwa 8 Jahre, Ob seine Erinnerung stimmt, ist fraglich, da ihm in dem Zusammenhang auch andere Fehler unterlaufen sind.

Nach einem Jahr wieder gemeinsamen Lebens lernt Johannes Wüsten die jüdische Journalistin Lotte Schwarz kennen, die am 12. März 1936 vor einer drohenden stalinistischen Deportation Moskau verlassen hatte. Sie kehrte mit ihrer Tochter Anjuta in ihre Geburtsstadt Prag zurück.
Johannes verfällt einer leidenschaftlichen Liebe zu ihr und verlässt 1937 Dorothea, obwohl sie beide weiterhin in freundschaftlichem Kontakt bleiben.
Sie begegnen sich regelmäßig im Oskar-Kokoschka-Bund, der 1937 von den deutschen Künstlern gegründet worden war. Sie pflegten Kontakte zu tschechischen Künstlern und Kunstverbänden und machten auch gemeinsame Ausstellungen.

FOLIE 41 Der Namensgeber Oscar Kokoschka, der vor den Nazis aus Wien nach Prag flüchtete, war weder Leiter noch Mitglied des Künstlerbundes, aber er wurde von deutscher, österreichischer und tschechischer Seite als der führende Künstler in Prag hoch geschätzt. Er war auch nicht eigentlich Emigrant, da sein Vater Goldschmied in Prag gewesen war.

FOLIE 42 Kokoschka erhielt den Auftrag, den Präsidenten Masaryk zu porträtieren. Im Hintergrund sehen wir Prag, neben ihm Jan Amos Comenius, und in der Lücke zwischen beiden den auf den Scheiterhaufen brennenden Jan Hus. In seinem Humanismus bezog sich Masaryk auf Comenius. 3 Marksteine humanistischer Gesinnung. Das Orbis pictus von Comenius begleitete Masaryk sein Leben lang. Beide wollten die Welt so gestalten, dass sie „für alle Menschen wohnlich sei“.

Dezember 1937 findet eine Gedenkveranstaltung für den verstorbenen Präsidenten Masaryk im Kokoschka-Bund statt. Im Jahr darauf überreicht der Kokoschka-Bund dem nachfolgenden Präsidenten Edvard Beneš zum Geburtstag auf der Prager Burg eine Grafikmappe, an der sich fast alle Emigrantenkünstler des Kokoschka-Bundes beteiligen. Dabei sind drei Zeichnungen zum Hussitenkrieg von Johannes Wüsten, ob Arbeiten von Dorothea Köppen dabei sind, kann nicht gesagt werden, da die Mappe nicht mehr auffindbar ist.
Der Oscar-Kokoschka-Bund ist die Vorgängervereinigung zum Freien Deutschen Kulturbund. Vorsitzende waren der Bildhauer Theo Balden, die Künstler Heinz Worner und Kurt Laden, mit denen Dorothea in London und Berlin befreundet bleibt.

FOLIE 43 Foto: Dorothea Köppen-Wüsten mit Annemarie Balden und Trude Schwarz. Annemarie Balden, Frau des Bildhauers Theo Balden war selbst Künstlerin, die symbolistisch bis abstrakt malte. Über Trude Schwarz konnte ich bisher nichts in Erfahrung bringen, vielleicht ist sie die Freundin, mit der Dorothea später über Polen nach England flieht.

FOLIE 44 Theo Balden hat in späterer Zeit die Porträtbüste von Johannes Wüsten geschaffen, die jetzt in Görlitz am Eingang zur Johannes-Wüsten-Straße steht (frühere Kahle).

FOLIE 45 Treffpunkte der kulturinteressierten Emigranten sind vor allem die Urania, die Privatgalerie von Dr. Hugo Feigl, das Café Kontinental und das Mánes, Ausstellungsort und Café, 1887 gegründet und genannt nach dem böhmischen romantischen Maler Josef Mánes, nach dem auch eine der Moldaubrücken genannt ist.

Folie 46 Um sich von dem anstrengenden Leben zu erholen, weilt Dorothea gern im Šárka-Tal
Einem romantischen Felsental im benachbarten Stadtteil VI. Dort steht die kleine barocke Matthäuskirche,

FOLIE 47 die sie mit wenigen Strichen skizzierte.

FOLIE 48 Dazu gehört das Matthäuskloster, das hier wie ein Gehöft wirkt. Davor ein Teich und rechts eine Wegekapelle.

FOLIE 41: Davor fand das Matthäusfest statt. Sie besuchte gern die Jahrmärkte, sie vermittelten wohl ein Stück Normalität.

FOLIE 42: Würstelesser und Großstadt-Lido (Baden). Die Aquarelle zeigen ihr Vergnügen am prallen Leben und den bescheidenen Vergnügungen des Volkes. Lenka Reinerova schwärmte von den duftenden gebratenen Würsten in den Holzbuden vor den Großkaufhäusern und auf Märkten. Diese Aquarelle mit ihren liebevollen satirischen Zügen fanden nicht nur Anerkennung in Prag, sondern wurden später auch in London ausgestellt.

FOLIE 46 Das Leben in der Emigration ist anstrengend und aufreibend. Dorothea sehnt sich nach einem normalen friedlichen Leben in Deutschland. Diese Zeichnung ist eine Erinnerung an die Heimat und zeigt wohl die Görlitzer Heide, durch die sie mit Verwandten und Freunden häufig gewandert ist.

1938 ist das letzte Jahr der Asylanten in Prag. Die Angliederung von Österreich an Deutschland am 12. März 1938 verschärft die innerpolitischen Auseinandersetzungen in der Tschechoslowakei.
April 1938 fordert Henlein für die sudetendeutsche Gebiet Autonomie. Deutsche Truppen versammeln sich an der tschechischen Grenze. Prag mobilisiert 400 000 Mann.
Juni 1938 emigrieren Johannes Wüsten und Lotte Schwarz mit Tochter Anjuta nach Paris.

Drei Monate später, am 29. September entscheiden in München Deutschland, Italien, Frankreich und Großbritannien die Sudetenfrage ohne Tschechoslowakei, die sich dem Beschluss unterwerfen muss, die Grenzgebiete an Deutschland abzutreten. Ein Tag nach dem Münchner Abkommen, in der Nacht vom 30.9.zum 1.10. marschiert die deutsche Wehrmacht in die Grenzgebiete ein, die dort lebenden Tschechen werden ins Landesinnere vertrieben: 20 000 Juden, 140 000 Tschechen, 9 000 deutsche Nazigegner, Sozialdemokraten und Kommunisten.
Beneš tritt als Präsident zurück.
Die nachfolgende II. Republik ist reaktionär. Die Exilpresse wird verboten, die Ausländer- und Passgesetze verschärft. Die Emigranten sind aber vor allem durch die drohende deutsche Invasion gefährdet. Herbst 1938 werden illegale Grenzübergänge nach Polen geschaffen. Es beginnt die Rettungsaktion von ca. 40 000 Menschen (Emigranten, jüdische und linke Tschechen). Polen legt keine Hindernisse für Transit in den Weg bis März 1939 unter der Bedingung, dass die Flüchtlinge aus Furcht vor deutscher Beobachtung in kleinen Gruppen reisen und sich nicht länger aufhalten als nötig. Aus Prag geht es bei Böhmisch-Ostrau über die Grenze nach Kattowitz, der Hauptstadt der autonomen polnischen Woiwodschaft Schlesien und von dort nach Gdingen bei der Freien Reichsstadt Danzig. Und von dort mit dem Schiff nach Schweden und England.
Um antifaschistische deutsche Künstler aus dem Land zu bringen, kümmerte sich vor allem der Klub „Die Tat“; Zielländer waren Kanada, USA, Mexiko, Schweden, Schweiz. Die meisten gehen nach England. Zu den Aktiven im Klub gehört die Schauspielerin Elsbeth Warnholtz. Sie fährt Herbst 1938 nach England und knüpft Verbindung zur „British Actors Equity“. Sie führt die Liste aller gefährdeten antifaschistischen Künstler mit, um Visa für sie zu erlangen.
Auch Theo Balden verfasst einen Appell mit dem Ersuchen um Ausreisehilfe für die Künstler des Oskar-Kokoschka-Bundes. Der tschechische Maler Josef Capek leitet den Appell an englische Bekannte weiter. Der Aufruf hat zur Folge, dass sich in London das Artist`s Refugee Committee formiert.
Dorothea verlässt mit einer Freundin am 5. März, also 10 Tage vor Einmarsch der Deutschen, Prag und emigriert nach England. Die Künstler können ihre Arbeiten und Materialien mit der Bahn aufgeben, das Gepäck kommt jedoch durch die Wirren in den seltensten Fällen an. Das könnte erklären, warum von Dorothea nur wenige Aquarelle aus Prag erhalten sind.

Londoner Exil 1939 - 1946

FOLIE 42 Kind mit Katze

Die britischen Einwanderungsbestimmungen verlangen ein Visum und den Versorgungsnachweis durch eine Arbeitsstelle, unterstützende Personen oder Organisationen. Das britische Innenministerium („Home Office“) gründet 1938 den „Czech Refugee Trust Fund“ als Dachorganisation für ca. 200 Hilfskomitees, dafür nimmt die Chamberlain Regierung eine Anleihe von 4 Mill. Pfund auf.
England hat selbst fast 2 Mill. Arbeitslose, und es kommen ca. 70 000 Flüchtlinge: 90 % rassisch Verfolgte, 2% politisch Verfolgte. Unter den 70 000 Flüchtlingen sind 400 Kulturschaffende. Eine davon ist Dorothea Wüsten.

FOLIE 43 Fred Uhlmann 1965

Dorothea bekommt eine Arbeitsstelle als Hausangestellte und Köchin bei dem jüdischen Maler, Schriftsteller und Juristen Fred Uhlmann aus Stuttgart und seiner 2. Frau Diana, deren Vater Mitglied im Oberhaus ist. Das Haus Uhlmann ist für viele Künstleremigranten die erste Anlaufstelle.
Im Hause Uhlmann war von 40 deutschen Emigranten die Gründung des Freien Deutschen Kulturbundes beschlossen worden.
Vorsitzender des FDKB ist zuerst Fred Uhlmann, Stellvertreter der Komponist Ernst Hermann Meyer. Als Präsidenten fungieren u.a. der Schriftsteller Arnold Zweig und der Maler Oskar Kokoschka. Der FDKB wächst in kurzer Zeit auf 1500 Mitglieder. Dorothea wird Mitglied in der Sektion Bildende Kunst, die 100 Mitglieder zählt, und nimmt an der ersten Ausstellung in der Wertheim Gallery teil mit ihren Prager Aquarellen.
Hier trifft sie viele Freunde aus dem Prager Oskar-Kokoschka-Bund.
Eine besondere Freude ist der Besuch ihrer Mutter August 1939, die aber nach Rückkehr in Blankenburg plötzlich stirbt. Im Jahr zuvor war schon ihre Schwester Katharina verstorben.
So ist Dorothea die einzig Überlebende ihrer Familie.
Aus der Familie Wüsten ist ihr Schwager Ernst nach England emigriert, der hier die Jüdin Hedwig Wagner heiratet, die ehemals mit einem Kindertransport nach England gekommen war.

Nach Kriegsausbruch 1./3.Sept.1939 gelten die Deutschen in England plötzlich als „feindliche Ausländer“ und dürfen sich nur in einer Zone von 3 Meilen um ihren Wohnort bewegen, für Reisen brauchen sie polizeiliche Erlaubnis. 22 bis 6 Uhr morgens ist Ausgangssperre. Ab Mitte September 1939 müssen sich alle Deutschen und Österreicher einem Tribunal stellen und werden auf ihre Loyalität überprüft.
20 000 kommen in Internierungslager, darunter auch Ernst Wüsten. Dorothea Wüsten muss sich 2 Tage vor Weihnachten 1939 dem Ausländer Tribunal stellen, darf aber in London bleiben.
Zu Weihnachten schreibt Johannes aus einem französischen Internierungslager bedauernd an Dorothea: “Wäre ich bei dir geblieben, wäre ich jetzt auch in London.“

Dorothea malt ihre Erinnerungen an Prag:

FOLIE 44 Hier der Karpfenkauf zum Weihnachtsfest.

FOLIE 45 oder die Erinnerung an ihre Reise in die Tatra zwei Jahre zuvor.

FOLIE 46 Hampstead 1946

Die meisten Emigranten leben in Hampstead.
Hampstead ist eine Vorstadt von London mit noch erhaltenem ländlichen Charakter, bergigen alten Gassen und einem großen Heidepark. Hier lebten seit dem 18. Jh. bevorzugt Künstler.
Dorothea schrieb: „Es ist auch heute noch die ruhige ländliche Umgebung, in der man stundenlang wandern kann, und die auch für die Familie Karl Marx das Entzücken der Sonntage bedeutete, die das Leben in Hampsteadt so angenehm macht, zumal man mit der U-Bahn das Centrum der Stadt in 10 Minuten erreichen kann“.

FOLIE 47 U-Bahn 1941 Die deutschen Künstler werden nicht die Gastfreundschaft vergessen, die ihnen in großzügigster Weise von englischen Künstlern entgegen gebracht wurde. Auch hier in der U-Bahn erfasst sie die Komik menschlicher Gegensätze: Die herausgeputzten Damen und die einfachen Soldaten.

FOLIE 45 Ostern in Hampsteadt.

Dorothea malt auch in Hampsteadt gern die einfachen Volksfeste, hier der Jahrmarkt zu Ostern. Dieses Aquarell hat sie 46 überarbeitet und eine Ruinenkulisse hinzugesetzt. Die Szenen erfasst sie gern vom erhöhten Standpunkt aus. Das zeigt sowohl Freude am Volksgetümmel wie auch Distanz.

FOLIE Bischof Bell Zentrum des kulturellen Lebens für die Emigranten-Künstler ist das Klubhaus des Freien Deutschen Kulturbundes, eine Villa, die die englische Staatskirche durch Vermittlung des Bischofs Dr. Bell. einem Freund von Bonhoeffer, zur Verfügung stellt.
Hier veranstalten sie Theater, Kabarett, Konzerte, literarische, kulturpolitische, wissenschaftliche Vorträge, Rezitationsabende, Diskussionen, Ausstellungen, Tanzveranstaltungen. Es gibt eine Bibliothek, ein Literaturcafé. Und hier berät auch eine Sozialkommission.
Das Leben der deutschen Emigranten ist also gut organisiert und kulturell reich gestaltet.

FOLIE 48: Tapeten, Stoffe: Zootiere, Wassertiere

Dorothea ist im Hause Uhlmann ein Jahr. Danach verdient sie sich etwas Geld durch Heimarbeit für Firmen. Sie entwirft Muster für Tapeten

FOLIE 49 Pferdeturnier (Für England sicherlich beliebtes Motiv)

für Stoffe, Papier, Wachstuch und Verpackungen, für Bemalungen von Keramiken, und Lederarbeiten und entwirft Glückwunschkarten.

FOLIE 51 Weihnachts- und Neujahrskarten, z.T. im Auftrag des FDKB, die bezug nehmen auf die Situation der Flüchtlinge.
Natürlich das Fluchtmotiv, aber viel reizvoller als die üblichen Druckkarten.

FOLIE 52 Das gleiche Motiv in drei Varianten: Das kleine Schiff segelt auf den Wogen des Lebens, mit dem Licht der Hoffnung dem Stern der Verheißung nach.

FOLIE 53 hier eine gedruckte Karte: Ruinen und Kriegs-Flugzeuge hinter der brennenden Kerze im Herzen.

Juni 1939 mit der Niederlage Frankreichs und Englands von Dünkirchen beginnt die deutsche Luftoffensive gegen England.

FOLIE 55 Luftalarm, schnell festgehalten in einer Skizze

Sept. 1940 bis Mai 1941 erleben die Londoner immer abendlich Luftangriffe. Zwischen dem 7.9. - 3.11.1940 57 Nächte lang wird London zwischen 21-6 Uhr von je 200 bis 500 Flugzeugen bombardiert.

FOLIE 56 Nach dem Luftangriff und ein Tag in Kriegszeit 1941 1946 resümiert Dorothea: “In der Emigration schlief man überhaupt nicht viel. Das Leben war zu anstrengend.“7

Nach Einmarsch der Deutschen in die SU Juni 41 können die internierten Emigranten nach England zurückkehren, so auch Ernst Wüsten.
Die Emigranten unterstützen die Kriegsanstrengungen Englands, z.T. als Soldaten in der britischen Armee, als Arbeiter in der Rüstungsindustrie oder eben wie hier bei der Feuerwehr und im Zivildienst bei der Brandbekämpfung nach Luftangriffen.

Neben ihrer Entwurfsarbeit befasst sich Dorothea mit Illustrationen zu Märchen

FOLIE 58 wie hier die Waldfrau – ein sehr schönes Blatt in seiner Geschlossenheit.

FOLIE 59 Im Gegensatz zum Kriegsgeschehen und der Bombardierung Londons erscheinen die englischen Gärten verträumt wie aus alten Zeiten, in diesen Gärten waren meistens private Schutzbunker gebaut.

Ab 1943 macht man sich Gedanken über die Zeit nach dem Kriegsende, die Sehnsucht nach der Rückkehr in die Heimat verstärkt sich.

FOLIE 60 Flüchtlingsfamilie, zusammengedrängt auf dem Balkon, neben einem Grammophon, das wohl die geliebten Lieder der Zwanziger Jahre spielt. An dieser Straße mit der Grünanlage wohnte eine Zeit lang Dorothea, es sind also ihre Nachbarn.

Dorothea arbeitet in der Freien Deutschen Bewegung (FDB) mit, deren Hauptaufgabe die Vorbereitung der Emigranten auf die Zeit nach dem Krieg und die Gestaltung eines künftigen befreiten Deutschlands ist. Präsident ist Prof. René Kuczynski. Der 1947 in Oxford gestobene Wissenschaftler gilt als einer der Väter der modernen Bevölkerungsstatistik.

FOLIE 61 Diese aquarellierte Zeichnung ist nicht nach Anschauung, sondern aus der Vorstellung heraus gestaltet: Die Flucht der Deutschen aus den besetzten Gebieten im Osten: Tier- und Menschenherden flüchten an den Ruinenstätten vorbei westwärts. Hinter den Zivilisten die Soldateska.

Februar 1945 kam in Dorotheas Hände eine kleine Zeitschrift für Kriegsgefangene „Volk und Vaterland“ von Weihnachten 1944 mit dem Nachruf von Heinrich Oberländer auf Johannes Wüsten. So erfuhr Dorothea 2 Jahre später von seinem Tod am 26.April.1943 im Krankenhaus des Zuchthauses Brandenburg-Görden. Der Kulturbund veranstaltete am 11.März 1945 in London eine Gedenkveranstaltung,
Zwei Monate später, am 8.Mai 1945 erfolgte die bedingungslose Kapitulation Deutschlands. Dorothea erlebt jubelnde Volksfeste auf den Straßen Londons.
Dorothea bemüht sich, nach dem sie vom Tod ihres Mannes erfahren hat, um die Sammlung seiner Werke. In Briefwechseln mit dem Verleger Wieland Herzfelde, mit Thomas Mann in Amerika, und Heinrich Oberländer in Frankreich erkundigt sie sich nach dem Verbleib seiner Manuskripte. Heinrich Oberländer, Flüchtlingsgefährte von Johannes Wüsten, hatte seine Manuskripte und Graphiken in einer Kiste im Bauernhaus seines Schwiegervaters vergraben und schickt sie nach London.
Für eine geplante Veröffentlichung des Romans Rübezahl schreibt Dorothea das Manuskript ab, wofür sie ein Viertel Jahr Zeit braucht.

Dorothea wartet ein ganzes Jahr auf die Genehmigung zur Rückreise nach Deutschland. Dieser Zustand zwischen ob und wann sei unerträglich, schrieb sie in einem Brief April 46.
Der weitaus größte Teil der Emigranten war nicht gewillt zurückzukehren. Viele nahmen die englische Staatsbürgerschaft an. Dorothea hofft Ende August in einer Gruppe von 120 Emigranten mit zukommen. Ernst und Hedi Wüsten mit ihrem einjährigen Sohn Thomas erhalten die Genehmigung. Dorothea muss noch warten. Da fährt sie 5 Tage an den Strand von Hastings.

Folie 62

Das empfand sie als sehr angenehm, Entspannung zu finden, frei umherreisen zu können. Es entstanden mit Farbkreiden luftig gearbeitete Zeichnungen von der Meeresbucht, der Steilküste und Düne.

FOLIE 63 Steilküste

FOLIE 64 Düne

Sie schreibt an Wieland Herzfelde: dass die Familie von Johannes möchte, dass sie nach Görlitz zurückkehre.
Aber sie habe nicht viel Lust, in die äußerste Ecke von Deutschland zu gehen, sie habe ihre dortigen Erfahrungen bis heute nicht verdaut. Am liebsten wäre ihr schon Berlin.

Berlin ist zwar zerstört im Gegensatz zu Görlitz, aber viele Emigrationsfreunde gehen nach Berlin. Sie selbst hatte ja früher auch in Berlin studiert und gearbeitet. Berlin 1946-1974

Dorothea Wüsten erhält am 12. September 1946 die militärische Einreiseerlaubnis von England in den britischen Sektor von Berlin. Zwei Wochen später trifft sie in Berlin ein und bezieht ein kleines möbliertes Zimmer in Berlin Eichkamp im gleichen Haus, wo schon Ernst und Hedi eine Wohnung erhalten haben.

FOLIE 65 Nachkriegswinter: Die Frau ist in vielen Schichten gegen die Kälte vermummt und füttert trotz eignem Hunger die Vögel. 1946/47 ist wohl die schwierigste Nachkriegszeit mit viel Kälte und unzureichender Ernährung.

FOLIE 70 Um sich aufzuwärmen besucht man die nach dem Krieg überfüllten Kneipen.

FOLIE 66 Aber siehe, mit dem Frühling kommt neue Hoffnung, und man schafft sich neue Lebensmöglichkeiten. Die Bearbeitung des Gartens ermöglicht Selbstversorgung. Und vor den Ruinen blühen wieder Tulpen.

FOLIE 75 Grünes Holz im Westen 1949 Eine andere Art der Selbstversorgung ist das Holzsammeln, Eigentlich ist es nur gestattet, Holz zu sammeln und Stubben zu roden. Wenn das nicht ausreichte, fiel illegal auch ein grüner Baum (viele Bäume sind ja nicht mehr vorhanden) und es entsteht ein Kampf um diese letzten Reserven. Wieder mit stark karikierender Typisierung.

Ihre Pinselzeichnungen und Aquarelle zeigen ihre Vorliebe für komische Typen und Situationskomik. Es sind karikierende Sittenbilder.
Dorothea macht aus alltäglichen Beobachtungen kleine Meisterwerke.

Zunächst ist sie freiberufliche Malerin und Illustratorin, obwohl sie erst ein halbes Jahr nach Rückkehr in den Verband Bildender Künstler aufgenommen wird.
Treffpunkt der ehemaligen Emigranten ist das Kulturhaus Erich Weinert in Berlin Pankow, dort wird die Tradition des Oskar-Kokoschka-Bundes weiter geführt unter Leitung der Künstler Theo Balden, Heinz Worner und Kurt Lade.

Mit ihrer freiberuflichen Arbeit verdient sie nicht ausreichend.
1947/48 arbeitet sie als Lektorin in freier Mitarbeit beim Dietz Verlag.

FOLIE 71 Igel Kaspar

Im Dietz Verlag wird 1947 ihr Kinderbuch „Igel Kaspar“ herausgebracht als erstes Kinderbuch in der sowjetisch besetzten Zone. Sie hatte es schon in London, vielleicht auch schon in Prag geschrieben und illustriert. 1992 erschien eine 2. Veröffentlichung in Görlitz von Igel Kaspar mit 2 anderen Märchen von ihr, die bisher noch nicht gedruckt worden waren.

FOLIE 72 2 Illustrationen 1947 hat sie eine Ausstellung von 23 Aquarellen in der Galerie Schreiber in Leipzig.

Mit knapp 53 Jahren kehrte Dorothea nach Deutschland zurück. Infolge ihres bisher aufreibenden entbehrungsreichen Lebens ist ihr körperlicher Zustand ruiniert.
1948 klagt sie über völliges Erledigtsein. Ihr werden 75% Erwerbsbehinderung bescheinigt.
Sie erhält die schriftliche Bestätigung, dass sie als Opfer des Faschismus offiziell anerkannt wird. Das bedeutet zumindest einen geldlichen Zuschuss.

Die nächste Erschwernis stellt sich mit der Währungsreform ein.
Dorothea wohnt in Westberlin und arbeitet für einen ostdeutschen Verlag. Durch den schlechten Wechselkurs kann sie ihr Leben kaum noch bestreiten.

Aber es gibt für andere auch offizielle Starthilfe zur neuen Existenzgründung

FOLIE 76 Neusiedler 1949 Heimatvertriebenen wurde ein Stück Land gegeben.
Der Hütejunge sitzt auf der Ruinenmauer. Hinter ihm wird das Feld bestellt. Die Tiere erscheinen wohl nicht ohne Grund immer als Paar. Ein neu erwachendes Landleben.


FOLIE 77 Aber auch in der Stadt werden die Trümmer beseitigt, um ein neues Deutschland zu schaffen. Hauptakteure sind die Frauen. Die Trümmerfrau wird zum Symbol. Hier hat Dorothea zwei ihr sehr nahe stehende Frauen porträtiert: eine Westberliner Freundin als Zeitungsausträgerin des Neuen Deutschlands und ihre Schwägerin Hedi Wüsten als Aufbauhelferin.

Ab Nov. 49 arbeitet Dorothea als Sachbearbeiterin im Archiv des Berliner Rundfunks in der Masurenallee in Charlottenburg, das ist zwar im Westteil gelegen, aber eine Ostberliner Einrichtung. Sie versucht krampfhaft, in den Ostsektor zu ziehen. Im Juli 1950 bekommt sie eine Wohnung in Pankow, ein reichliches Jahr nach den Währungsreformen.
Nach zwei Jahren– sie ist 57 - geht sie aus gesundheitlichen Gründen in Rente.
Ihre Hauptsorge gilt nun dem künstlerischen und schriftstellerischen Werk von Johannes Wüsten. Als besonderen Schatz brachte sie aus London die Kiste mit den Manuskripten und Grafiken ihres Mannes mit. Sie bemüht sich um die Bearbeitung und Herausgabe des literarischen Nachlasses, um Ausstellungen seines bildnerischen Werkes, eine Gesamtausgabe seiner Grafiken und sucht nach weiteren durch die Emigration verlorenen Manuskripten.

FOLIE 78 Zeesen Körbiskrug 1953 verkauft Dorothea nach vielerlei Hin und Her das elterliche Haus in Blankenburg und kauft sich dafür ein Grundstück in Körbiskrug bei Königswusterhausen und lässt sich darauf ein Häuschen bauen. Dort findet sie Ruhe und Erholung und vielerlei Motive zum Zeichnen mit Farbkreiden und Wasserfarben.

FOLIE 80 Badende Zu großen Arbeiten fehlt ihr die Kraft.

FOLIE 81 Sie beteiligt sich einmal an einem Wettbewerb: Darstellung der Großbaustelle Stalinallee 1953-59 (Bau 1951-63). Mit diesem Gemälde war sie nie zufrieden und es blieb für sie unfertig.

FOLIE 82 Bauerngehöft Die letzten Arbeiten zeigen einfache Motive in großzügiger Erfassung.

Folie 83: Landschaft, Blumenvase
Nach 1960 hat sie vermutlich kaum noch künstlerisch gearbeitet.

FOLIE 84 Altersporträt

1971 wird ihr anlässlich der 900-Jahr-Feier die Ehrenbürgerschaft von Görlitz verliehen. Persönlich kann sie bei der Festveranstaltung nicht teilnehmen.
Zum 80. Geburtstag hat sie eine Ausstellung in Berlin Pankow und erfährt viele Ehrungen.
3 Tage später verstirbt sie im Krankenhaus.
Ihr Grab ist im Ehrenhain für VDN (Verfolgte des Naziregimes) auf dem Friedhof in Pankow, wo viele der Englandemigranten ihre letzte Ruhestätte gefunden haben.

Geschichte ist Geschehen in der Biographie. Dorothea Wüsten hat faktisch 5 Zeitenwenden erlebt. Sie war keine Kämpferin an der politischen Front, sie kämpfte um Linderung von vielerlei Art von Not und Mangel.
Auch ihre Malerei war keine Polit-Kunst im vordergründigem Sinne, sondern Spiegel ihres Erlebens, häufig mit ironischem Augenzwinkern.