Rübezahl

Historischer Roman

Da... auf dem schneefreien Wipfel der Fichte sitzt es jetzt... Der Mann unten am Weg rührt sich nicht. Langsam rieselt es braun durch die Zweige, die, von Schnee und Rauhreif umwachsen, in unförmlichen, weißen Wucherungen herabhängen. Schuppe auf Schuppe schält das Eichhörnchen von dem Zapfen. Es dreht ihn dabei in den Vorderpfoten wie eine Spindel. Die Sonne neigt sich am wolkenlosen Himmel schon dem Horizont zu. Das rostrote Fell dort oben mit dem buschigen Schwanz leuchtet auf. Der Frost zeichnet alle Konturen so scharf, als sei keine Luft da.
Plötzlich ein helles Keckem: der halbgeschälte Zapfen fällt herunter. Das Eichhörnchen saust durch die Äste...zwei, drei Ellen herab...erwischt den Zweig der nächsten Fichte, rast ihn entlang, krallt sich den Stamm hinauf zur Krone, läßt sich von da abstürzen...und immer hinter ihm her ein langgestreckter Körper. Nicht weniger geschickt im Springen, Klettern, Stürzen. Aufwirbelnder Pulverschnee zeigt die Spur der Hetzjagd. Todesangst peitscht die Muskeln des Eichhörnchens, beißender Hunger die Sehnen des Marders...
Im Wald fällt ein Schuß. Der Mann am Weg fährt zusammen. Vor ihm treibt Dampf aus dem Dunkel des Waldes. Er greift unter den Mantel, aber er hat die Pistole vergessen. Er vergißt sie meist, obgleich sie gar nicht schwer ist, verglichen mit der alten, die er früher trug. Man bekommt jetzt wunderschöne leichte Pistolen mit zwei Läufen - englische natürlich.
...wenn jetzt ein Wilddieb...an Wölfe will er gar nicht erst denken, verfluchter Leichtsinn... man geht nicht im Winter aus hier ohne Waffe! Immerhin, er ist nur noch eine Viertelmeile von Agnetendorf entfernt. Und so lange ist es ja hell. Besonders bei so klarem Frost...
Als ihm die große Schneewehe an der Straße die Sicht endlich freigibt, sieht er den Schützen vor sich her stapfen. Frische Bluttropfen betupfen den Schnee in langen Abständen. Der Mann will nicht rufen, so hustet er. Der Schütze wendet den Kopf mit der dicken Fellmütze und bleibt stehen, grüßt höflich:
"Herr Wost... die hohe Ehre."
"Was hat er geschossen, Tschapek?" fragt Peter Wost vergnügt den alten Wildheger.
"Ein halbes Lot Marder", lacht der Alte. Zwei gelbe Vorderzähne entblößen sich dabei, die einzigen, die er noch hat.
"Und was trägt er da vorn in seinem Pelz?"
Die Vorderzähne verschwinden hinter Lippen, die sich zu einer dicken Schnute formen. Tschapek wiegt den Kopf und krabbelt mit den Fingern zwischen Pelz und Rock. "Ein rotes Fichtenmännchen, seht Ihr, Herr, ein Nußäffchen, der Marder purzelte grade mit ihm durch die Äste... da an der Schulter hatte er's schon gerissen. Aber das heilt sich aus. Haha, die kleine Bärbel wird es pflegen... es macht sich possierlich im Käfig, so ein Wichtel mit seinen runden Äugelchen."
Tschapek wischte etwas Blut, das unter die schwarzen Nägel lief, am Riemen seiner Flinte ab. Dann zog er den Fausthandschuh über.
"Den Marder hat das seinen Schwanz gekostet. Er wird ohne ihn ni mehr lange jagen."
Peter, als er die Beute sah, lachte. "Da hat der Luchs ja gut daran getan, gleich, als Gott ihn schuf, auf den Schwanz zu verzichten. So könnt ihr Nimrode den nicht mehr kupieren, so elend unwaidmännisch."
Aber Tschapek zeigte wieder seine beiden Zähne. "Es war mit der Kugel, Herr Wost, und in der Hast. Sonst hätte es ni dem Wichtel hier das Leben erhalten."
Peter lachte von neuem. "Er läßt sich wenigstens nicht frozzeln, Tschapek. Ich weiß, er ist ein sicherer Schütze. Und auch was das Eichhörnchen anlangt, so hat er recht. Es wird im Käfig wohl noch oft an diese letzte Stunde denken, die es im Wald verbracht hat."
Der alte Tschapek schielte nach seinem Begleiter. Aber nichts in Peter Wosts Gesicht verriet den doppelten Sinn seiner Worte. Der Doppelsinn indes war da. Der Jäger fühlte neben der Wärme, die durch den Rock drang, den hastigen Schlag des ängstlichen kleinen Tierherzens. "... man kann es ja im Frühjahr wieder freilassen", brummte er zögernd.
Peter kopfschüttelnd: "Man hat sich bis zum Frühjahr daran gewöhnt, den Käfig voll Leben zu sehen. Man wird vielmehr dafür sorgen, ein zweites Wichtelchen zu fangen, mein lieber Tschapek, zum Männchen ein Weibchen. Und deren Kinder - das beruhigt -, die wissen dann schon gar nichts mehr vom Wald."
Der Schnee knirschte unter ihren Stiefeln. Sie waren nicht mehr weit von den ersten Häusern. Aber es dämmerte nun schon stark.
"Ihr arbeitet jetzt in Agnetendorf?" fragte der Wildheger.
"Für eine Weile ja. Die Frau Gräfin wünscht eine Vedute vom Gebirge im Winter."
Tschapek wollte nicht fragen, was das sei. Und Peter Wost erschien es allzu lehrhaft, das nachträglich zu erklären. Man kam zu wenig mit den Leuten zusammen, da verlernte man es eben, sich richtig auszudrücken.
"Trinkt er einen Bittern mit mir?"
Tschapek nahm geschmeichelt an. Er wollte nur das Wichtel ins Forsthaus hinübertragen.
Eine Weile stand Peter Wost allein im Schnee. Aus den Bauden und Hütten fiel das matte Licht der Ölfunzeln. Rak...kerak...kerak...nah und fern drang aus jeder Wohnung das Klappern der Webstühle. Irgendwo jetzt brüllte eine Kuh im Stall, meckerte eine Ziege. Die Dächer gingen sanft gewölbt in die Felder über. So viel Schnee lag, daß man die Fenster an der Windseite hatte ausschaufeln müssen. Aus allen Kaminen stiegen Fäden von gelbgrauem Rauch senkrecht empor. Also wird wohl auch die Kälte steigen. Immer noch hob sich der Steilabhang des Kammes vom Horizont ab, doch da und dort verlief er schon wie ein Nebel in dem sich nächtlicher färbenden Himmel. Wie sanft wölbt sich der Riesenkamm von hier gesehen zur Schneekoppe, wie zierlich geschwungen neigt sich die Koppe zum Melzergrund! Und doch... wer würde es wagen, auch nur bis zu ihrem Fuß jetzt vorzudringen?! Das wagt man kaum im Sommer...
Winzig, von hier aus wie ein Sandkorn, erhebt sich auf der Schneekoppe die Kapelle Sankt Laurentii. Und er hat sie unberührt gelassen, der Unhold, er hat sie nicht in den Melzergrund hinabgeschmettert oder in den Aupakessel gestürzt. Aber warum auch grade diese Kapelle? Stehen nicht in seinem Reich Kirchen zum Überfluß?! Und ist sein Gebiet nicht auch hier?! Hier, wo ich eben warte - ich, Peter Wost, derzeit Kupferstecher ihrer Gnaden der Gräfin Schaffgotsch, die mich am Hintern lecken soll mit ihrer neuen Vedute -, kann nicht der Gnom hier erscheinen? Daherkommen als armer Hausierer, als braver Holzknecht? Und plötzlich fährt ein Feuerstrahl auf wie zehn Blitze, und sein brüllendes Gelächter macht die Ohren taub?!
...da, Schritte... Wie man doch bei derlei Gedanken gleich vor allem erschrickt! "Tschapek, ich habe ihn fast für den . . . "
"Pst", macht Tschapek, "ni berufen!"
"Wenn man zu zweit ist, denkt man ruhiger über ihn. Ist das nicht lächerlich? Was können zwei, was zwanzig, was viel mehr noch gegen ihn?!"